VdW Rheinland Westfalen: Was ist mit dem Begriff Suffizienz in Bezug auf das Themenfeld Wohnen gemeint und welche Ziele und Motive verfolgt das suffiziente Wohnen?
Anja Bierwirth: „Suffizienz allgemein lässt sich am besten mit „genug“ übersetzen. Es geht also darum, nicht zu wenig, aber eben auch nicht zu viel zu haben. Beim Thema Wohnen geht es dabei oft (nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der Energiekrise durch den Krieg in der Ukraine) beim Heizen um die Frage, wie warm müssen Zimmer sein und richtiges Lüften, um keine Heizenergie zu verschwenden. Im Strombereich geht es um die Nutzung – möglichst effizienter – Geräte und darum, in Zimmern das Licht auszumachen, wenn niemand drin ist. Suffizienz wird also oft auf der Ebene des individuellen Verhaltes diskutiert. Ich finde aber ganz andere Fragen auch wichtig. So steigt seit Jahrzehnten die Wohnfläche pro Person, obwohl das insgesamt betrachtet nicht zu mehr Wohnqualität führt. Im Gegenteil gibt es vor allem ältere Menschen, die mit ihren zu großen Häusern überfordert sind, aber keine Alternative finden, um sich zu verkleinern. In diesem Thema steckt noch viel Suffizienz-Potenzial, das meines Erachtens noch immer viel zu wenig beachtet und adressiert wird. Denn jeder Quadratmeter, der nicht beheizt, gekühlt und beleuchtet werden muss, ist aus Sicht des Klima- und Ressourcenschutzes ein Gewinn, während er gleichzeitig eine Entlastung für Menschen sein kann.“
VdW Rheinland Westfalen: Blicken wir einmal konkret in die Umsetzung: Was ist im Gebäudebestand oder bei der Anpassung und Planung von Grundrissen notwendig, um diese suffizient zu gestalten?
Anja Bierwirth: „Bei der Gestaltung und der Nutzung von Räumen und Gebäuden kann man mit Blick auf die Suffizienz fragen: Brauche ich für jede Nutzung, wie Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Gästezimmer, Küche usw., einen eigenen Raum für mich oder kann ich mir auch vorstellen, mir manche Räume mit anderen zu teilen oder einen Raum für verschiedene Tätigkeiten zu nutzen? Auch sind zwar offen gestaltete Grundrisse schon seit einigen Jahren sehr in Mode, gleichzeitig aber braucht es für ungestörte Privatsphäre oder Arbeit auch mal eine Tür, die man hinter sich zumachen kann. Durchgangszimmer oder zum Wohnzimmer hin offene Küchen sind da eher weniger geeignet. In verschiedenen Projekten finden sich auch temporär nutzbare Räume, wie z.B. Gästezimmer, Arbeitsplätze oder Räume für größere Runden und Feste. Wenn ich diese Angebote mit anderen teilen kann, braucheich sie nicht in meinem privaten Bereich vorzuhalten, wo sie dann möglicherweise oft ungenutzt sind und trotzdem Geld kosten. Und dabei noch Platz verschwenden, der gerade in Gebieten mit wenig verfügbarem Wohnraum dringend gesucht ist.“
VdW Rheinland Westfalen: Das Thema Suffizienz lässt sich sowohl auf das Gebäude als auch auf das Quartier beziehen. Sind urbane und ländliche Regionen in Bezug auf die Suffizienz unterschiedlich zu betrachten und wenn ja, wie?
Anja Bierwirth: „In ländlichen Räumen finden sich im Verhältnis mehr Einfamilienhäuser als in städtischen Gebieten, wo Mehrfamilienhäuser einen höheren Anteil haben. In Einfamilienhäusern leben deutlich öfter die Eigentümerinnen und Eigentümer auf viel Fläche, in Mehrfamilienhäusern mehr Menschen zur Miete auf vergleichsweise weniger Fläche. Ansatzpunkte für suffizientes Wohnen finden sich dennoch in allen möglichen Regionen und Gebäudetypen, sie unterschieden sich aber durchaus. Die eben erwähnten Gemeinschaftsnutzungen etwa lassen sich eher in dicht bewohnten Quartieren etablieren, weil es mehr Menschen gibt, die sie potenziell nutzen. Doch wenn man mal das irreführende Wort Ein-FAMILIEN-Haus vergisst, bietet sich auch ein kleineres Gebäude als „Mehr-Personen-Haus“ an, das von mehreren Menschen bewohnt werden kann, die nicht familiär verbunden sind.“
Das Interview befindet sich auf den Schwerpunktseiten der Februar-Ausgabe des VerbandsMagazins 02/2023.